Die Wahrheit ist den Menschen zuzutrauen

 

oder die Kunst, emotionale Blindgänger zu erziehen

 

 

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Eine junge Mutter bekommt einen Anruf und beginnt zu weinen. Ihr Dreijähriger sieht das, geht zu ihr, klettert auf ihren Schoß, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und fragt: „Mama, bist du traurig?“ Er hält ihr sein Kuscheltier zum Trösten hin. Mama wischt sich die Tränen ab und sagt: „Nein, mein Schatz, es ist nichts – ich hatte nur eine Wimper im Auge.“

Tatsächlich aber hat gerade ihr Freund telefonisch die Beziehung beendet. Sie verlässt den Raum, heult im Badezimmer und kehrt mit aufgesetzter Fröhlichkeit ins Wohnzimmer zurück, als wäre nichts gewesen.

 

Der kleine Sohn ist verwirrt, da er offenbare Zeichen falsch gedeutet hat. Er spürt zwar, dass die Fröhlichkeit der Mutter anders ist – aber sie hat ihm ja gesagt, dass er sich geirrt hat. Ihr vertraut er doch. Und dass Papa jetzt seltener kommt? – naja das weiß er da ja noch nicht – und vielleicht merkt er es ohnehin nicht … er ist ja noch so klein….

 

Solche Erlebnisse haben viele Kinder von Anfang an. Mit dem - gut gemeinten - Wunsch, unsere Kinder vor unseren Sorgen und Leid zu bewahren, erziehen wir emotional verwirrte Menschen, denen wir andauernd erklären, ihre WAHRnehmung sei falsch.- Alles sei doch „OK“ und nicht so schlimm. Wir lehren Kindern also FALSCHnehmung.

 

Auf diese Weise bringen wir unseren Kindern bei, sich selbst zu misstrauen, also ihre Gefühle zu verleugnen.

 

Natürlich wollen wir alle, dass unsere Kinder in Sicherheit, Freude und immerwährender Glückseligkeit aufwachsen. – Aber das Leben ist eben nicht immerwährende Glückseligkeit!


Fragen Sie sich daher: Ist es wirklich klug, Folgendes und Ähnliches zu sagen?


„Nein, Mami ist nicht wütend auf Papa – alles ist in Ordnung.“ – (Die Scheidung in 4 Monaten ist halt dann so eine Phase… Heutzutage lassen sich ja alle scheiden – das entscheidet man mal so, aber dafür bekommst du 2 Kinderzimmer und 2 Urlaube – ist das nicht toll?)

„Du musst nicht traurig sein, wenn Dein Meerschweinchen gestorben ist – wir kaufen ein neues – ein besseres.“

„Die Uroma ist auf Urlaub gefahren deswegen sehen wir sie nie.“ Das Begräbnis fand statt, als das Kind mit Freunden im Vergnügungspark war.

 

 

Von Anbeginn an lehren wir also jungen Menschen, dass ihre Empathie falsch ist, dass ihr Mit-fühlen ein Irrtum sei und dass eigentlich alles ganz anders sei, als sie es WAHRnehmen.

 

Wir glauben – mit fatalen Folgen - es reicht, unsere Kinder abzuspeisen mit einer vagen Ausrede, mit fadenscheinigen Erklärungen und schon geben sie sich zufrieden. Wenn wir kurz darauf neben dem Kind - das ganz offensichtlich vertieft ist in eine Fernsehsendung, oder ein Spiel - unsere Sorgen am Telefon über Partner, Jobverslust, Todesfälle etc. einer Freundin erzählen, soll es auf wundersame Weise taub, blind und dumm werden?

 

Herzlichen Glückwunsch ihr Kind hat einige wichtige Lektionen für das Leben gelernt:


  • Ich leide an FALSCHnehmung
  • Meine Bezugsperson belügt mich
  • Meine Bezugsperson nimmt meine Gefühle und Wahrnehmungen nicht ernst
  • Ich darf am Leben meiner Bezugsperson keinen Anteil haben

 

Wir ihr Kind dann ein wenig älter, hat es vielleicht auf weiten Strecken das Vertrauen in Sie verloren und es misstraut seinem eigenen Urteil, aber nun sind SIE nicht immer vor Ort, um ihm zu erklären, was läuft, was es schon wieder FALSCHgenommen hat. Es weiß nicht, wie es gut mit eigenen oder fremden Emotionen umgehen soll. Ihr Kind deutet Emotionen und Reaktionen anderer falsch, da SIE es „um-trainiert“ haben.

 

Gratulation – sie haben einem Menschen seine natürliche Empathie abtrainiert.

 

So stolpert Ihr Kind frisch, fröhlich durch die Welt und hat keine Ahnung, wie das, was es fühlt eigentlich heißt. Es hat keine Ahnung, ob es so etwas überhaupt fühlen darf. Es hat nie gelernt, dass ALLES, was es selbst fühlt richtig ist, da es ja sein Gefühl ist. Es hat gelernt, dass man seine Gefühle nicht ausdrücken darf, um andere nicht traurig zu machen.


 

Wie soll ein junger Mensch, erwachsen werden und plötzlich mit Situationen umgehen können, die ihm nie zugetraut wurden? Wie soll Ihr Kind einmal damit umgehen, dass es Schicksalsschläge gibt, wenn Sie ihm nie Gelegenheit gaben an (hoffentlich) kleineren Dramen zu üben und sie mit Ihnen gemeinsam zu meistern?

 


Wie soll Ihr Kind einmal die ganze Bandbreite an Glück fühlen können, wenn es nicht auch Unglück erlebt hat?

 

Wie soll Ihr Kind Ihnen gegenüber ehrlich sein, wenn Sie es über weite Strecken belogen und ausgeschlossen haben?

 

Was wollen Sie?

Eine Fassade aus „alles-ist-in-Ordnung“ und Sie haben keine Ahnung, wie es Ihrem Kind wirklich geht, oder eine Basis aus Vertrauen und Anerkennung?


Vielleicht erlauben Sie sich in Zukunft dann auch einmal die Frage: „Wie geht es Dir?“ ehrlich zu beantworten.

 

Es grüßt Sie herzlich Ihre

 

Anita Molzbichler

 

 

 

 

 

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